Arbeitsschutz in der Zeitarbeit: Wer trägt welche Verantwortung im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung?

Physische und psychische Belastungen am Arbeitsplatz sind ein zentrales Thema im betrieblichen Arbeitsschutz – auch und gerade in der Zeitarbeit. Denn Zeitarbeitskräfte sehen sich häufig besonderen Herausforderungen ausgesetzt: wechselnde Tätigkeiten, unterschiedliche Führungskulturen, soziale Isolation oder unklare Einsatzperspektiven.

Doch wer trägt im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung eigentlich die Verantwortung für die Sicherheit und Gesundheit dieser Beschäftigten – insbesondere in Bezug auf psychische Belastungen? Einsatzbetrieb oder Zeitarbeitsfirma? Die Antwort: beide – aber mit klar verteilten Rollen.

Die DGUV Regel 115-801 „Branche Zeitarbeit“ (April 2024) schafft hierzu Klarheit. In diesem Beitrag zeigen wir, wie die Verantwortlichkeiten bei der (psychischen) Gefährdungsbeurteilung geregelt sind – und was Unternehmen konkret tun müssen.

Rechtliche Grundlage: § 11 Abs. 6 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG)

Die zentrale rechtliche Grundlage bildet § 11 Abs. 6 AÜG:

„Die Tätigkeit des Leiharbeitnehmers bei dem Entleiher unterliegt den für den Betrieb des Entleihers geltenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Arbeitsschutzrechts; die hieraus sich ergebenden Pflichten für den Arbeitgeber obliegen dem Entleiher unbeschadet der Pflichten des Verleihers.“

Klartext: Der Einsatzbetrieb (= Entleiher) ist für alle arbeitsschutzrechtlichen Anforderungen verantwortlich, die sich aus der konkreten Tätigkeit am Einsatzort ergeben – so, als wäre die Zeitarbeitskraft Teil der Stammbelegschaft. Trotz dieser Hauptverantwortung des Einsatzbetriebs entbindet § 11 Abs. 6 AÜG das Zeitarbeitsunternehmen nicht von eigenen Pflichten im Arbeitsschutz.

Doppelte Verantwortung: Zwei Betriebe, ein gemeinsames Ziel

Die Gefährdungsbeurteilung – also die systematische Erfassung und Bewertung von Belastungen am Arbeitsplatz – ist im Arbeitsschutzgesetz verankert. Sie muss auch psychische Belastungen umfassen. In der Zeitarbeit betrifft sie jedoch zwei Arbeitgeber gleichzeitig:

  • den Einsatzbetrieb, bei dem die Tätigkeit tatsächlich stattfindet, und
  • das Zeitarbeitsfirma, das die Arbeitskraft überlässt.

Die DGUV Regel 115-801 betont, dass beide Parteien – Einsatzbetrieb und Zeitarbeitsfirma – für Sicherheit und Gesundheitsschutz zuständig sind und sich in diesem Rahmen abstimmen und zusammenarbeiten müssen. Dabei ergibt sich folgende Aufgabenverteilung:

    Das Bild zeigt die Aufgabenverteilung hinsichtlich der Verantwortungen bem Arbeitsschutz für Zeitarbeitende.

    Fazit: „Sowohl der Einsatzbetrieb als auch das Zeitarbeitsfirma müssen daher jeweils eine Beurteilung der Arbeitsbedingungen (Gefährdungsbeurteilung) durchführen, um sicherzustellen, dass die Beschäftigten der Zeitarbeit auf sicheren Arbeitsplätzen eingesetzt werden. Die Beurteilung der Arbeitsbedingungen ist die Basis der zwischen Zeitarbeitsfirma und Einsatzbetrieb abzustimmenden Schutzmaßnahmen (DGUV, 2024, S. 21)

    Pflichten des Einsatzbetriebs:

    Das Zeitarbeitsfirma bleibt Arbeitgeber im rechtlichen Sinne – und damit auch für den Arbeitsschutz verantwortlich. Daraus ergeben sich insbesondere folgende Aufgaben:

      N

      Gefährdungsbeurteilung einholen und prüfen

      • Fordert die Gefährdungsbeurteilung vom Einsatzbetrieb an – idealerweise bereits im Rahmen der Auftragsannahme.
      • Prüft die übermittelten Informationen – in der Regel erfolgt eine Besichtigung des vorgesehenen Arbeitsplatzes, um die tatsächlichen Bedingungen und Belastungen zu erfassen.
      • Dabei wird auch bewertet, ob die vorhandenen und getroffenen Schutzmaßnahmen ausreichen, um Sicherheit und Gesundheit – einschließlich psychischer Aspekte – zu gewährleisten.
      N

      Abstimmung bei Mängeln

      • Falls Defizite oder Lücken in der Gefährdungsbeurteilung bestehen, erfolgt eine Abstimmung mit dem Einsatzbetrieb über notwendige ergänzende Maßnahmen.
      N

      Auswahl und Einsatz steuern

      • Erst nach positiver Bewertung entscheidet das Zeitarbeitsfirma, ob der Einsatz der überlassenen Person unter den gegebenen Bedingungen verantwortbar ist.
      N

      Dokumentation und Nachweisführung

      • Die Ergebnisse und getroffenen Vereinbarungen werden dokumentiert – insbesondere im Rahmen der Arbeitsschutzvereinbarung im Arbeitnehmerüberlassungsvertrag.
      N

      Mitwirkung am Unterweisungsprozess 

      • Auch wenn die Unterweisung vor Ort erfolgt, trägt das Zeitarbeitsunternehmen Mitverantwortung dafür, dass sie vollständig und angemessen ist. Im Zweifel muss nachgesteuert werden.

      Eigene Beurteilung bei fehlender oder nicht plausibler Dokumentation

      • Liegt keine Gefährdungsbeurteilung vor oder erscheint sie nicht nachvollziehbar, führt das Zeitarbeitsfirma in Zusammenarbeit mit dem Einsatzbetrieb eine eigene Gefährdungsbeurteilung durch.

      Ergänzung: Die Besonderheiten der Zeitarbeit als Beschäftigungsform werden unabhängig vom konkreten Einsatzbetrieb gesondert betrachtet. Die Bewertung dieser übergreifenden Aspekte liegt in der Verantwortung des Zeitarbeitsunternehmens. Im Fokus steht dabei nicht der einzelne Arbeitseinsatz, sondern die Gesamtsituation der Beschäftigung als Zeitarbeitnehmerin oder Zeitarbeitnehmer – etwa hinsichtlich häufig wechselnder Einsatzorte, Unsicherheiten über Einsatzdauer oder eingeschränkter sozialer Integration im jeweiligen Betrieb.

      Zentrale Schnittstelle: Die Arbeitsschutzvereinbarung im Überlassungsvertrag

      Die arbeitsschutzrechtliche Abstimmung sollte nicht mündlich, sondern vertraglich geregelt sein – und zwar in Form einer Arbeitsschutzvereinbarung innerhalb des Arbeitnehmerüberlassungsvertrags, die die arbeitsschutzbezogenen Rechte und Pflichten beider Parteien (Verleiher und Entleiher) klar regelt.

      Diese Vereinbarung dokumentiert z. B.:

      • ob eine Gefährdungsbeurteilung zur Verfügung gestellt oder zur Einsicht bereitgestellt wird,
      • welche Gefährdungen vorliegen,
      • welche Maßnahmen zur Prävention getroffen wurden,
      • welche PSA, arbeitsmedizinischen Vorsorgen oder Eignungsbeurteilungen erforderlich sind.

      Tipp: Diese Vereinbarung sollte auftragsbezogen und arbeitsplatzkonkret erfolgen – gestützt durch die Informationen aus Auftragsannahme und Arbeitsplatzbesichtigung (durch Verleiher).

      Alle Musterformulare (Auftragsannahme, Arbeitsplatzbesichtigung, Arbeitsschutzvereinbarung) finden Sie im Anhang der DGUV Regel ab Seite 35.

      Praktische Umsetzung – was gilt bei fehlender schriftlicher Vereinbarung?

      Wenn keine schriftliche Vereinbarung vorliegt, gilt folgende Orientierung:

      • Bei vergleichbaren Arbeitsbedingungen zwischen Zeitarbeitskräften und Stammmitarbeitenden kann eine Übertragbarkeit der Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung (psychischer Belastung) angenommen werden.
      • In diesem Fall ist keine gesonderte Einbindung der Zeitarbeitskräfte in den Analyseprozess des Einsatzbetriebes erforderlich – aber die Dokumentation muss dem Zeitarbeitsunternehmen zur Einsicht überlassen werden.
      • Weichen die Arbeitsbedingungen ab (z. B. durch andere Aufgaben, andere Arbeitszeiten oder -umgebung), muss eine eigene Gefährdungsbeurteilung für Zeitarbeitskräfte im Einsatzbetrieb erfolgen.

      Fazit: Arbeitsschutz funktioniert nur gemeinsam

      Der Schutz der Gesundheit von Zeitarbeitskräften ist gesetzlich verpflichtend – und verlangt klare Absprachen zwischen den beteiligten Unternehmen. Die Verantwortung lässt sich nicht „delegieren“, sondern muss partnerschaftlich und dokumentiert wahrgenommen werden.

      Nur wenn Einsatzbetrieb und Zeitarbeitsfirma ihre jeweiligen Rollen aktiv ausfüllen, ist ein sicherer und gesundheitsgerechter Einsatz möglich – ganz im Sinne des § 11 AÜG und der DGUV-Regel 115-801.

      Sie möchten mehr erfahren oder Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung erhalten?

      Gerne unterstützen wir Sie bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung, um ein wirksames und nachhaltiges Ergebnis sicherzustellen – sprechen Sie uns an.

       

      Ihr Team VisionGesund.







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      Literatur:

      Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. (2024). DGUV‑Regel 115‑801: Branche Zeitarbeit – Anforderungen an Einsatzbetriebe und Zeitarbeitsunternehmen. Berlin: DGUV. https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/3097

      Bildernachweis:

      Urheber*in: Mikołaj Bleja/ Pexels